Sonntag, 8. Februar 2009

Warum sollte eine Gemeinschaft überhaupt führen?

Der Soziokratie geht es um die Führung von Organisationen. Ihr Ziel ist es, bisheriges autokratisches Management durch soziokratische Selbst-Führung zu ersetzen.

Aber warum sollte eine Organisation überhaupt durch die Gemeinschaft ihrer Mitglieder geführt werden? Oder spezifischer: Warum sollte ein Unternehmen durch die Gemeinschaft seiner Mitarbeiter geführt werden?

Soziokratie ist leer

Geht es um Gerechtigkeit? Geht es um Menschlichkeit? Geht es um eine bessere Welt und die Abschaffung jeder Unterdrückung der Vielen durch wenige Mächtige?

Das mag jeder Vertreter der Soziokratie für sich persönlich entscheiden. Die Soziokratie selbst als Methode jedoch ist solchen Fragen gegenüber indifferent. Die Soziokratie ist im doppelten Sinne leer: weder bezieht sie sich auf eine bestimmte Art von Organisation oder Branche, noch ist sie moralisch im herkömmlichen Sinn.

image Soziokratie ist ein Werkzeug. Nicht mehr, nicht weniger. Insofern kann sie richtig oder falsch, zum Guten oder zum Schlechten eingesetzt werden.

Also nochmal die Frage: Warum empfiehlt die Soziokratie die Führung einer Organisation durch ihre Mitglieder?

Der autokratische Homunkulus

Autokratie mag effizient sein - aber ist Autokratie auf effektiv?

Wikipedia definiert:

* Effizienz ist ein Maß für die Wirtschaftlichkeit (Kosten-Nutzen-Relation).

* Effektivität ist ein Maß für die Zielerreichung (Wirksamkeit, Qualität der Zielerreichung).

Peter Drucker hat das dann verkürzt auf:

* Effizienz: „Die Dinge richtig tun.“

* Effektivität: „Die richtigen Dinge tun.“

Die Prämisse der Autokratie ist, dass der Autokrat weiß, was das Ziel ist bzw. sein sollte und durch seine Macht die Qualität der Zielerreichung sicherstellen kann. Es kommt dann nur noch darauf an, dass das auch effizient geschieht. "Nicht lang schnacken..." ist das Motto der Autokratie; lieber zügig anpacken, so wie es der Autokrat durch seine Rahmenbedingungen vorgibt. Er weiß, was richtig ist und er definiert auch die Grundsätze dafür, wie das dann richtig getan wird.

image Bei der Autokratie hängen Wissen und Wille und Macht unmittelbar zusammen.

Damit ist der Autokrat quasi der Homunkulus im sozialen System seines Unternehmens: er kennt das Ziel, er überwacht den Weg dahin, er befiehlt die Bewegungen seiner Glieder, er definiert den Weg für die Ausführung.

Autokratie hat den Sinn für´s Richtige verloren

Soziokratie bezweifelt nicht, dass Autokratie eine effiziente Führungsmethode ist. Soziokratie stellt sich daher auch nicht gegen die Autokratie per se. Sie möchte sie nur auf den Platz verweisen, wo sie ihre Vorteile ausspielen kann. Das aber ist heute eben nicht mehr die Führung von Organisationen.

Warum nicht? Autokratie ist heute ineffektiv! Die Prämisse der Autokratie gilt nicht mehr. Der Autokrat bzw. die autokratische Struktur ist heute zunehmend unfähig, das Organisationsziel zu bestimmen und auch noch zu definieren, wie es zu erreichen ist.

Autokratie hat den Sinn dafür verloren zu beurteilen, was richtig ist und wie der richtige Weg dorthin aussieht.

So ist die Umsetzung unter der Führung von Autokratie vielleicht noch effizient - aber es wird das falsche Ziel effizient erreicht.

Wenn ein autokratisch geführter Konzern auf den Druck der Medien allen Mitarbeitern jede Äußerung über ihren Arbeitsplatz verbietet, um einen Skandal über Spitzeleien klein zu halten, dann mag das sehr effizient geschehen - doch ist das auch die richtige Reaktion der Führung? Ist es effektiv, Mitarbeitern den Mund zu verbieten?

Tunnelblick durch institutionalisierte Messungen

Wenige können heute die Umwelt ihrer Organisation nicht mehr überblicken. Wenige haben kein vollständiges Bild mehr dessen, was draußen geschieht; vor allem haben wenige kein vollständiges Bild mehr von dem, was drinnen geschieht.

image Organisationen sind keine Versammlungen von Gleichgetakteten. Ihre Mitglieder sehen sich als Individuen mit einem eigenen, auch von der Organisation zu berücksichtigenden Willen. Organisationen sollten das jedoch nicht als Nachteil sehen, sondern auch die andere Seite der Medaille "Individuum" erkennen: Individuen sammeln über ihre unmittelbaren Anweisungen hinaus Daten. Einfach so.

Jeder Mitarbeiter ist also nicht nur als Willensträger potenzieller Querulant, sondern darüber hinaus wertvoller potenzieller Informant. Man muss ihn nur zu Wort kommen lassen.

Wer weiß über den Markt Bescheid? Das Marketing? Wer weiß über die Zufriedenheit der Kunden bescheid? Der Vorstand? Wer weiß über die Verschwendung an Ressourcen in der Produktion Bescheid? Der Abteilungsleiter des Lagers? Oder der Einkauf?

Dass der Autokrat nicht alles weiß, weiß selbst der Autokrat. Deshalb baut er zur Informationsgewinnung ein bürokratische Systeme auf: Controlling, Score Cards, Reviews, Vorschlagswesen, Kummerkasten...

Klingt gut - funktioniert aber nur begrenzt. Solche Messinstrumente messen nämlich nur, was der Autokrat vorher zu messen gewünscht hat. Und das messen sie auch noch ineffizient.

Institutionalisierte Messungen draußen und drinnen sind somit nicht wirklich sensibel und proaktiv. Ihr Raster ist genauso vorgegeben wie ihre Abtasthäufigkeit. Das wirklich Unerwartete, Neue, Innovative, also das wirklich wertvolle hat durch diese Kanäle kaum eine Chance, zum Homunkulus vorzudringen. Intitutionalisierte Messung ist schmalbandig.

Schmalbandigkeit ist nun allerdings das komplette Gegenteil davon, wie es im Leben zugeht. Leben ist breitbandig. Immer und überall passiert etwas. Wer da meint zu wissen, auf welchen Kanälen Relevantes geschieht, ist in der heutigen Welt zumindest naiv. So mag es früher gewesen sein. Heute hingegen mag die Idee eines Laufburschen aufgrund einer Zeitungsnotiz mehr Relevanz haben, als die letzte Börsenanalyse. Naiv, wer meint, solche Ideen über intitutionalisierte Messungen einfangen zu können. Arrogant, wer meint, auf solche Ideen verzichten zu können.

Die Welt ist zu vernetzt und zu schnelllebig, als dass autokratische Zentralen ihre Organisationen wie früher durch den Markt lenken könnten. Auf eine komplexe Umwelt kann nur eine komplexe Führung angemessen reagieren. Autokratische Führung ist per Definition jedoch nicht komplex. Je komplexer die Umwelt wird, desto mehr schrumpft ihre Wahrnehmung auf einen Tunnelblick.

Effektive Führung braucht die Gemeinschaft

Komplexität kann nur durch Komplexität bewältigt werden. Wenn die Komplexität in der Umwelt durch Vernetzung steigt, muss die Organisation darauf mit Komplexitätszuwachs in der Führung antworten.

Diesen Komplexitätszuwachs kontrollieren zu wollen, wäre dabei ein Widerspruch in sich. Er sollte nicht kontrolliert, sondern nur in einem Forum zweckgerichtet stattfinden. Ein solches Forum bietet die Soziokratie.

Ihr Credo lautet: Versammle die Menschen einer Organisation in soziokratischen Kreisen, um dort spontan die zur Führung nötige Komplexität entstehen zu lassen. Wo Menschen gleichberechtigt zusammenkommen, da vernetzen sie sich, da entsteht Komplexität.

Soziokratie ist doppelt leer. Ihr einziger Zweck ist die effektive und effiziente Führung von Organisationen angesicht steigender Komplexität. Soziokratie ist an der (Über)Lebensfähigkeit von Organisationen gelegen. Dafür sieht sie keinen anderen Weg, als die breite Beteiligung ihrer Mitglieder an den Führungsentscheidungen. Nur wo die Organisation "die Weisheit der Gemeinschaft" anzapft, dann kann sie für sich nachhaltig handeln.

Dass dabei auch noch die Zufriedenheit der Gemeinschaftsmitglieder steigt, weil sie sich anerkannt fühlen durch die Einbeziehung und Veranwortung, ist ein schöner Nebeneffekt. Oder: Warum zwischen Haupt- und Nebeneffekt unterscheiden? Im Grunde ist nicht zu entscheiden, wo die positiven Effekte beginnen. Führt die Partizipation aller an der Führung zu angemesseneren Reaktionen der Organisation und dadurch zu mehr Zufriedenheit? Oder führt mehr Zufriedenheit zu noch mehr Partizipation? Unterm Strich gilt: Geht es den Organisationsmitglieder in und mit der Organisation gut, so geht es auch der Organisation mit ihren Mitgliedern gut.

Indem die Soziokratie nicht einfach predigt, Organisationsmitglieder sollten auch gemeinschaftlich führen, sondern dafür eine ganz bestimmte Form jenseits des überkommenen Modells Demokratie definiert (Kreishierarchie, Kosent-Entscheidungen), integriert sie die Bedürfnisse sowohl der Individuen wie auch der Organisation. Beide sind aufeinander angewiesen, also müssen beide beachtet werden.

Autokratie stellt die Bedürfnisse der Autokraten und die des Unternehmens (Ganzes) über die der Individuen (Teile). Demokratie stellt die Bedürfnisse der Individuen (Teile) vorne an - lässt durch Effizenzmangel aber das Ganze aus dem Blick.

image Soziokratie nimmt Teile und Ganzes ernst. Denn in einer komplexen äußeren und auch inneren Welt kann das Ganze der Organisation nur noch wirklich effektiv sein, wenn es seine Teile wertschätzt und zu Wort kommen lässt. Das Ganze kann sich nicht mehr leisten, seine Teile zu ignorieren oder auch nur zu gängeln. Andererseits können sich die Teile nicht mehr leisten, sich dem Ganzen zu ergeben; und selbst wenn sie es könnten, sie wollen das ja auch nicht mehr.

So ist Soziokratie eine partizipatorische, integrative, ganzheitliche und systemische Methode zur Führung von Organisationen.